„Das Leben in den heutigen Städten zu dokumentieren, begeistert mich am meisten und ist meine Art, die Welt kennenzulernen.“ Wir sprechen mit
Nick Turpin Fotograf mit einem “Doppelleben”: Beruflich arbeitet er als Fotograf für redaktionelle Inhalte und Werbekampagnen (zu seinen Kunden zählen IBM, Toyota, Barclays Bank und Jaguar), in seiner Freizeit lebt er seine künstlerische Ader als Straßenfotograf aus. Er selbst bezeichnet seine Fotografie nicht als street photography, sondern als candid public photography, also als “unverstellte Fotografie an öffentlichen Orten”: Seine Bilder entstehen nicht nur in Straßen, sondern an öffentlichen Orten allgemein und seine Subjekte sind sich nicht bewusst, fotografiert zu werden.
An dem Tag, als wir dieses Interview durchführten, knackte Turpins Hashtag
#canpubphoto, mit dem professionelle und Amateurfotografen ihre Verbundenheit mit der candid public photography bekunden konnten, die 100.000-Marke auf Instagram.
Aus der Serie The French, Foto von Nick Turpin aufgenommen in Grenoble, Frankreich
In der Absicht, die Welt durch die Fotografie zu dokumentieren, kann man bei Turpin mindestens zwei technisch-ästhetische Merkmale finden: Eines ist Farbe, denn “natürlich erleben wir die Welt in Farbe”, erklärt Turpin, “aber auch deshalb, weil das Schwarz-Weiß ein historisches Erbe besitzt, von dem ich mich fernhalten möchte: Ich will nicht die gleichen Fotos meiner Kollegen vor fünfzig Jahren, sondern meine eigenen machen.“ Um so wenig wie möglich auf die Szene einzuwirken, vermeidet Turpin in der Candid Public Photography neben dem Tageslicht oder bereits bestehendem künstlichen Licht zusätzliche Lichtquellen.
„Schließlich mache ich auch professionelle Porträts im Freien“, sagt Turpin, „und verwandle die Straße oft in ein Fotostudio.“ In diesen Fällen arbeite ich aber mit Assistenten, die Blitzgeräte tragen. Für zwei Projekte, Youth und The Bridge, habe ich die Subjekte für die Porträts mit kleineren Lichtquellen illuminiert. Die Idee dazu hatte ich, als ich noch in New York lebte und die kleinen Lichtlachen fotografierte, die sich auf der Straße beim Sonnenuntergang für kurze Zeit bilden, wenn die Sonne sich auf den Glasfassaden der Wolkenkratzer spiegelte. In diesen Porträts habe ich versucht, diese kleinen Lichtlachen nachzubilden.“
Foto von Nick Turpin, aufgenommen in London
Durch den Verzicht auf Blitzlicht muss die unverstellte Fotografie an öffentlichen Orten der Metropolen interessanterweise einen „natürlichen“ Rhythmus einhalten. „Ein Straßenfotograf ist sich der Richtung, der Intensität, dem Winkel und der Temperatur des Lichts immer genau bewusst“, sagt Turpin, „weil diese Faktoren buchstäblich festlegen, wo man fotografieren kann und wo nicht.“ Folglich sucht sich der Fotograf mit fortschreitender Tageszeit offenere Orte, wo das Sonnenlicht ungehinderter einfallen kann oder die umliegenden Gebäude die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs reflektieren, wie bei den Wolkenkratzern von New York.
Abends geht das Spiel dank der künstlichen Beleuchtung wieder von vorne los: “In der Dämmerung und nachts ziehen mich die gut beleuchteten Bereiche an, wo ich arbeiten kann”, sagt Turpin. „Manchmal, wenn die Straßenbeleuchtung ausreicht, ein wenig Atmosphäre und Schatten zu erzeugen, gelingen wunderbare Fotos. Auch Werbebildschirme können nützlich sein, zum Beispiel die am Londoner Piccadilly Circus, in deren Licht du die ganze Nacht knipsen kannst.“
Foto von Nick Turpin, aufgenommen in London
In der Dämmerung und nachts ziehen mich die gut beleuchteten Bereiche an.
Allerdings ist die vollständige Machtlosigkeit, Einfluss auf die Lichtbedingungen zu nehmen, die Kehrseite der Medaille, so Turpin: „Es kommt vor, dass man unglaubliche, aber schlecht beleuchtete Szenen beobachtet und sie nicht fotografieren kann.“
In einem seiner jüngsten Projekte ist die Dunkelheit dagegen zu einem Verbündeten geworden. On The Night Bus versammelt die Porträts von Pendlern hinter beschlagenen Scheiben von Bussen, die Turpin drei Winter lang hintereinander aufgenommen hat: „Draußen in der Dunkelheit“, erzählt er, „sah ich die Menschen in den Bussen ganz deutlich, aber sie mich nicht. Auf diese Weise konnte ich sehr intime Fotos schießen. Dazu waren die Lichter in den Bussen immer sehr unterschiedlich: Hier findest du Leuchtstoff-, Halogen- oder LED-Licht und alles in verschiedenen Farben.
"Für Turpin ist die Candid Public Photography mehr als eine Kunstform: „Es ist eine Art Meditation. Beim Fotografieren in den Straßen verliere ich vollständig das Bewusstsein meines Selbst und kann sechs oder sieben Stunden in einer Stadt verbringen, ohne jemals an mich selbst zu denken. Dieses Gefühl schätze ich sehr.“ „Die Straßenfotografie ist ein mentaler Prozess“, sagt er und fügt hinzu: „Die eigentliche Aufnahme ist der letzte Schritt in diesem Prozess, mit dem das Endresultat registriert wird. Street Photographer kann jeder werden; ich verwende einen kleinen Fotoapparat mit Standardlinse, aber man könnte auch mit einem Smartphone knipsen. An der Straßenfotografie gefällt mir ihre technische Schlichtheit, aber genau ihre Einfachheit macht sie auch so schwierig; das Schwierigste, was ich je mit einem Fotoapparat unternommen habe.“