Wenn wir an Farben denken, stellen wir sie uns als abstrakte und unveränderliche Wesenheiten vor, in Mustern katalogisiert und jede nach ihrem eigenen Pantone-Code geordnet. Wir neigen dazu zu glauben, dass Farben „existieren“, aber in Wahrheit sind die Dinge viel komplizierter.
Welche Farbe hat dieses Kleid?
Als die Sängerin Caitlin McNeill am 27. Februar 2015 auf Tumblr das Foto eines Kleids postete und ihre Follower fragte, ob es blau und schwarz oder weiß und golden sei, rechnete sie wohl nicht damit, eine erhitzte Debatte auszulösen, die das Web tagelang beherrschte. Einige sahen in ihm nämlich blau und schwarz, andere dagegen weiß und golden. Wer hatte Recht? Die Wahrheit ist, dass beide Versionen ihre Existenzberechtigung hatten (wer den “Deutungskrieg” um das Kleid verpasst haben sollte,
hier gibt es eine kurze Zusammenfassung).
Die Autorin Kassia St Clair erläutert das Phänomen in der Einleitung ihres Buches “Die Welt der Farben” (Tempo, Übersetzung von Marion Hertle): Der Grund für die Zweideutigkeit des Fotos liegt in unserer Wahrnehmung der Farben. Dass die Hälfte der Menschheit eine Farbe sieht, die andere eine komplett andere, hat damit zu tun, dass unser Gehirn Indizien benötigt, um festzulegen, von welcher Farbe ein Objekt ist, z.B. das umgebende Licht. „Einige Personen haben erfasst, dass das Kleid von einem starken Licht überschüttet war, so dass ihre Gehirne die Farben automatisch dunkler gemacht haben; andere haben das Kleid so wahrgenommen, als hätten sich Schatten darauf gelegt, so dass ihre Gehirne das Gesehene aufgehellt und den bläulichen Schleier entfernt haben.“
Die Begebenheit von 2015 zeigt, dass wir zwar die Welt in Farben sehen - das ist eine universelle Tatsache - aber nicht genau so felsenfest behaupten können, wie die von unseren Augen wahrgenommene Farbe von unserem Gehirn interpretiert wird. Bis heute ist es etwa nicht gelungen festzulegen, ob wir alle beispielsweise dasselbe Rot einer reifen Tomate sehen. Wenn wir diese Tomate betrachten (oder das berühmte Streifenkleid) dringt das Licht durch die Linse in unsere Augen ein, trifft auf die Netzhaut, in der sich Millionen lichtempfindliche Zellen (Stäbchen und Zapfen) befinden, welche die Informationen dem Gehirn über das Nervensystem melden, welches sie seinerseits als Farbe interpretiert. Hier befinden wir uns am Ursprungsort der Nuance, des Chaos, das die Welt scheidet in Schwarz und Violett oder Weiß und Golden.
Morgenkleid aus Ackermann's Repository, ca. 1819. Rechts das Titelbild von Die Welt der Farben
Die Sache wird noch komplizierter, wenn wir daran denken, dass die Farbe nicht nur ein physikalisches Phänomen, sondern auch ein wundersames kulturelles Konstrukt ist.
Beim Studium der Ausgaben des ’“Ackermann Repository” (eine der ältesten
Zeitschriften überhaupt, deren Ausgaben heute im Victoria and Albert Museum
ausgestellt sind) fiel Kassia St Clair – die für verschiedene englische Zeitschriften
und Sender zu Design und Kultur schreibt – auf, dass ihr nicht alle
Beschreibungen der vor zwei Jahrhunderten modischen Kleidungsstücke klar
waren. So fanden einige auegführten Farbnuancen keine Übereinstimmung in
der heutigen Farbensprache. Fasziniert von dieser Welt, die sie nur zum Teil
verstand, begann sie, die verschiedenen Nuancierungen zu „kartieren“. Bei der
Auswahl der Farbpaletten hielt sie sich an das Kriterium der Einzigartigkeit oder
Bizzarheit: Aus Kunst und Kultur, Anthropologie und Mode hat sie 75
„vergessene“ Farben herausgearbeitet.
Khaki und Heliotrop in der Farbpalette der Braun- und Violett-Töne
Vertreten ist zum Beispiel Khaki, die erste für eine Militäruniform verwendete Farbe, mit der Soldaten im Gelände nicht auffallen, sondern mit ihm verschmelzen sollten. Auch das Heliotrop ist dabei, ein „so angenehm auszusprechendes Wort, das den Mund wie eine buttrige und reichhaltige Sauce ausfüllt“. Einst war sie exklusive Farbe und Symbol für Gottesfürchtigkeit - in viktorianischer Zeit auch als Trauerfarbe verwendet - heute wurde sie selbst längst zu Grabe getragen. Oder die „Fleischfarbe“, die sich auf dem Modemarkt bis in die 1920er Jahre hielt (wo sie vorwiegend für Damenunterwäsche Verwendung fand). Nur der weiße, kaukasische Hauttyp wird in diesem Rosa- Ton den Effekt „nude“ erzeugen. „Fleischfarbe“ legt uns Europäer also als Ethnozentriker bloß.
Ein weiterer Faktor, der das Interesse an diesem Band weckt, ist die linguistische Frage. In der italienischen Ausgabe verfasste die Übersetzerin Claudia Durastanti auch eine kleine Einführung, in der sie schreibt, dass die Überführung der Farben von einer Sprache in die andere die Verwirrung noch vergrößert: Purpur ist für den Engländer kein Rot, sondern Violett. Oder das berüchtigte „Fleischfarben“, das für die Italiener generell Rosa ist, bei St Clair aber unter den Orangetönen rangiert. Die Übersetzung taucht in eine zu interpretierende Welt ein und erzeugt selbst eine kuriose, wunderschöne Karte, deren Schichtungen potenziell unendlich sind.