Die Flüsterlichter der Altstadt von Tallinn

Estland ist eine in die Zukunft gerichtete Nation, eines der am stärksten digitalisierten Länder der Erde. Trotz dieser Zukunftsorientierung und ihrer Innovationskraft empfinden die Esten auch tiefe Verbundenheit mit ihrer Geschichte und Kunst, die im Zentrum ihrer Hauptstadt innerhalb der Stadtmauern verkörpert ist. Tallinn besitzt eine der am besten erhaltenen Stadtmauern des Mittelalters in Nordeuropa, die seit 1997 Welterbe der UNESCO ist. In Erwartung der Festlichkeiten für das hundertjährige Bestehen der Republik Estland im Jahr 2018 wurde 2017 eine Ausschreibung für eine neue Beleuchtung der Altstadt von Tallinn ausgelobt. Der Gewinner, das finnische Studio Lighting Design Collective, verwirklichte diese 2019 mit einer Finanzierung von über 800.000 Euro der Immobiliengesellschaft Kapitel, während der Anlagenbau und die Installation vom Unternehmen Merko realisiert wurden.
Die Lighting Designer haben ein Lichtkonzept entwickelt, in dem die Positionierung der Leuchten und die Beleuchtungsstärken die ursprünglich beleuchteten und identitätsstiftenden Merkmale der Stadt hervorheben. Für die Erhebungen hat das Studio auch mit Dronen und Laser Scanning gearbeitet, sowie eine Reihe von Mock-ups realisiert. Es sind die Details, die in einem Gleichgewicht aus Licht und Schatten akzentuiert werden, die, die Aufmerksamkeit der Besucher und Bürger an sich ziehen ohne dass eine rein auf Strahlern basierende Beleuchtung mit farbiger Illumination hätte verwendet werden müssen.
Das Lighting Design Collective hat dafür Leuchten mit geringen Abmessungen gewählt, die auch in die Architektur selbst eingelassen werden können und so einen Effekt „von innen“ erzeugen, wie für die Beleuchtung der Fensteröffnungen in den Türmen, für die großflächig auf Underscore InOut zurückgegriffen wurde. Für die Beleuchtung der weitläufigen Stadtmauer wurden generell Linealuce-Leuchten mit Wallwasher- und Wall-Grazing-Optik mit Streiflicht eingesetzt, die in einigen Fällen, vor allem in Bezug auf die gänzlich abgedeckten Turmspitzen, von Woody-Strahlern auf Masten ergänzt werden.  
Neben den Stadtmauern und den in sie integrierten Türmen betraf der Eingriff u.a. auch die Freitreppe und die Böschung Patkuli, die Burg Toompea und den Turm Margareeta. Letzterer, der aufgrund seines größeren Durchmessers gegenüber den anderen Türmen von den Bewohnern liebevoll auch der „Dicke“ genannt wird, wird in seinem ganzen Umfang durch Light Up Earth mit  Wallwasher-Optik - Super Comfort zur Geltung gebracht. 
Bei diesem Projekt hatten die beiden Lighting Designer auch Gelegenheit, sich bestimmte Orte als Favoriten auszusuchen: Für Anuj Gala ist dies die Freitreppe Patkuli, die zuvor auf ungleichmäßige Art beleuchtet war und die Struktur der Mauern nicht hervortreten ließ, und nun eine weichere und wärmere Qualität aufweist, die die Formen der Landschaft hervortreten lässt. Für Jari Vuorinen ist der gelungenste Eingriff dagegen der am Pick Jalg (der für Besucher geöffnete Turm des Schlosses Toompea), dessen Mauern zuvor im Dunkeln lagen.
Insgesamt erhielten 40 Bereiche eine neue Beleuchtung. Etwa 600 LED-Leuchten mit warmer Farbtemperatur wurden verbaut, mit denen eine Ersparnis von 80 % gegenüber der Vorgängeranlage ermöglicht wird. Das Resultat ist eine Beleuchtung, die der Stellvertretende Bürgermeister von Tallinn, Kalle Klandorf, als „samtweich“ beschrieben hat, taucht sie die Stadt doch in eine überall spürbar warme und einladende Atmosphäre ein, die im Winter mit der verschneiten Landschaft ringsherum zauberhaft anmutet.