Zu den Formen der Erzählung, in denen das Licht eine grundlegende Rolle spielt, gehört sicherlich die Graphic Novel. Schließlich kann die Beleuchtung einer Tafel den Sinn einer Szene, ihre emotionale Aufladung und Rolle innerhalb des Erzählverlaufs vollkommen ändern.
Häufig achtet der lichtempfindliche Blick auch auf das umgebende Ambiente, ob es das Inneres einer Behausung oder eines urbanen Raumes ist. In den fünf gezeichneten Geschichten, die wir hier ausgewählt haben, treffen gewagte experimentelle Erzählmuster mit außerordentlicher Sensibilität für Licht- und Farbaspekte aufeinander.
1. Hier von Richard McGuire (DuMont)
Im Jahr 1989 veröffentlichte Richard McGuire eine Geschichte aus 36 Bildern in Schwarzweiß in der ersten Ausgabe der zweiten Serie von „Raw“, der historischen US-amerikanischen Comic-Zeitschrift, herausgegeben von Art Spiegelman und Françoise Mouly. Diese Geschichte nennt sich Here und sprengt die lineare Erzählweise: Auf einem stets identischen Hintergrund, einem schlichten und anonymen Zimmer, sehen wir dem Verstreichen der Zeit in Form von veritablen Zeitfenstern zu, die dem Leser in den einzelnen Vignetten Details aus vergangenen und zukünftigen Epochen zeigen. Diese mehrdimensionale Sicht auf temporale und narrative Verläufe wurde noch wirkmächtiger, als McGuire 2014 beschloss, die Story auszuweiten: Aus dem ursprünglichen Schwarz-Weiß wurde realistisch eingesetzte Farbe, um den Gefühlszustand der Figuren nahezubringen, die über einen Zeitraum von 3.000.000.000 v. Chr. bis 2014 dieses einfache Zimmer bewohnen, vielleicht der eigentliche Protagonist der Geschichte zusammen mit dem Verstreichen der Zeit selbst.
2. La casa von Paco Roca (Reprodukt)
Das Verrinnen der Zeit und ein Haus, nicht mehr nur ein Zimmer, stehen auch im Zentrum von La casa von Paco Roca. Der spanische Künstler verflechtet Gegenwart und Zukunft in der Erzählung dreier Geschwister, die ein Jahr nach dem Tod des Vaters in das Haus zurückkehren, in dem sie geboren wurden. Ursprünglich wollen sie es verkaufen, werden aber im Laufe der Geschichte von Erinnerungen und der Befürchtung überwältigt, damit einen Teil ihrer Vergangenheit und vielleicht auch sich selbst zu verlieren. Es dominieren die melancholischen Nuancen und das Licht der Erinnerung: In warmen Tönen werden die Kindheitserinnerungen evoziert, ein Farbspektrum, das starke emotionale Wirkungen erzielt. Auch schmerzhaften Erinnerungen kommen ans Licht, wie die Krankheit des Vaters: Hier kühlen sich Licht und Farben merklich ab, ohne den Leser außen vor zu lassen, sondern ihn im Gegenteil noch stärker in diese Geschichte „voller Liebe und Aufrichtigkeit“ hineinzuziehen, wie Fernando Mariás im Nachwort schreibt.
3. Sabrina von Nick Drnaso (Blumenbar)
Sabrina war die erste Graphic Novel, die für den Man Booker Prize 2018 nominiert war. Ein grober Abriss der Handlung: Sabrina verschwindet von einem Tag auf den anderen; ihr Verlobter Teddy flüchtet sich in die Wohnung seines Freundes Calvin, der für die amerikanische Marine arbeitet und versucht, nach dem Weggang seiner Frau und seiner Tochter nach Florida sein Leben in den Griff zu bekommen. Fake News, Verschwörungstheorien und Online- Kommentare bedrohen das Gleichgewicht und die geistige Gesundheit der Figuren: Die klaustrophobische Atmosphäre wird von Nick Drnasco meisterhaft mit dem Blick fürs Wesentliche in einem minimalistischen Ambiente wiedergegeben. Das Licht trägt dazu bei, diese klaustrophische Stimmung noch zu steifern, in der sich die Figuren befinden: Es gibt keine Schatten, in die man sich hineinflüchten kann; sowohl die Schwester von Sabrina als auch Teddy und Calvin sind stets von einem Licht beleuchtet, dass ihre Psyche offen zutage treten lässt und die Zerbrechlichkeit und Labilität unterstreicht.
4. Sin City von Frank Miller (Cross Cult)
Frank Millers 1991 zum ersten Mal erschienene Sin City ist eine Comicserie, die ein großes Publikum erreichte und trotzdem dem Mainstream fernblieb. Das mag auch daran liegen, dass Sin City den Themen des Hard Boiled (Sex, Gewalt, grausame Morde, aber auch Kannibalismus, Pädophilie und Prostitution) verpflichtet ist, was für ein amerikanisches Comic mit einer derart hohen Auflage untypisch ist. Für die Erzählung seiner Stadt der Sünden verwendet Miller im Wesentlichen nur zwei Farben, Schwarz und Weiß. Allerdings gibt es auch interessante kleinere Ausnahmen von dieser Regel, wie in Dieser feige Bastard, in dem der gelb gekleidete Widersacher sich vom schwarz-weißen Grund abhebt. Die typische urbane Stimmung des Hard Boiled, die verfremdeten Einstellungen (häufig ist die Perspektive unter- oder oberhalb des normalen Blickfeldes angesiedelt, was die Wahrnehmung der Realität verzerrt) und die Härte des Schwarz-Weiß erzeugen einen sehr starken, der Handlung förderlichen Kontrast: Es ist die effizienteste Art und Weise, eine ins Dunkle getauchte Welt aus Licht und Schatten, Gewalt und Grausamkeit geprägte Welt zu erzählen.
5. d‘Orsay-Variationen, Manuele Fior (avant-Verlag)
In seinen d‘Orsay-Variationen entführt Manuele Fior den Leser in eines der berühmtesten Museen der Welt. Bevor es die Ehre hatte, die berühmtesten Werke der französischen Kunst des Fin de Siècle zu beherbergen, war der Gare d‘Orsay ein Pariser Bahnhof. 1986 wurde das Gebäude zum musée (den Umbau leitete Gae Aulenti), seit 1973 erscheint es im Verzeichnis der historischen Denkmäler der Stadt. Der anlässlich der Weltausstellung eröffnete Bahnhof wurde ganz im Stil der damaligen Zeit mit einer Glas- und Metallstruktur entworfen, die eine monumentale Steinfassade kaschierte. Das Tageslicht trat durch die großen Glasfenster ein, die das Gebäude auch als idealer Ort der Kunst erscheinen ließen. Mit dem Einsatz der Goauche, einer Maltechnik, die eigentlich der Malerei nähersteht als dem klassischen Comic, hat sich Fior ins Innere der im Museum ausgestellten Werke, aber der Leben der Künstler und die Stadt Paris selbst begeben. So weisen die 64 Bildtafeln seiner Graphic Novel die typische Fin de siècle-Stimmung auf, die die Werke der Impressionisten und Post-Impressionisten prägen: Inmitten von Freilicht-Szenen und Jugendstil-Gebäude aus Glas und Metall hat Fior ein fragmentarisches Kaleidoskop aus Anekdoten angesiedelt, eine lyrische Reise auf den Spuren des Geheimnisses der Kunst und der ungreifbaren Faszination des künstlerischen Schaffens.