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Die Pandemie und die Macht der Bilder

Interview mit der Semiotikerin Anna Maria Lorusso

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Published: 27 Mai 2020
„Als Wissenschaftlerin hatte ich den Eindruck, dass Bilder während der Pandemie noch eine wichtigere Rolle und stärkere Wirkung entfaltet haben, weil sie eine narrative Leere ergänzt haben“, sagt Anna Maria Lorusso, Dozentin für Semiotik und Koordinatorin des Studiengangs Kommunikationswissenschaft der Universität Bologna. Gegenüber einer anomalen Erfahrung wie dem Lockdown haben wir sicherlich Bedarf nach wissenschaftlichen Erklärungen“, fährt Lorusso fort, aber vor allem benötigen wir einen „Frame“ für das Verständnis dessen, was um uns herum geschah, um die „von uns gelebte Gegenwart und die Zukunft, die wir uns vorstellen konnten, einzurahmen“. Diese Frames speisen sich häufiger aus der Bildsprache als aus eigentlichen Erzählungen.

Die Social Networks bieten eine einzigartige Vitrine zur Betrachtung der individuellen und sozialen Erzählungen, die sich um unsere historische Epoche herum entwickeln. Während des Lockdowns hat iGuzzini Instagram-Nutzer dazu aufgerufen, ihren Gemütszustand durch Fotos zu erzählen, in denen das Licht die Hauptrolle spielt. Der Social call #feelingwithlight hat über 800 Bilder produziert. Mit dem Hashtag wurde so einer ganz besonderen Strömung in einem Meer von Millionen Nutzern Ausdruck verliehen, die wie alle monatelang auf ihre vier Wände beschränkt waren, aber beschlossen hatten, die radikale neue Dimension des Augenblicks durch Bilder mitzuteilen, die sie entweder sahen oder bald wieder sehen wollten.

„Ich glaube, dass den Bildern auf unseren Socials und generell in der Medienlandschaft in dieser Zeit noch mehr Bedeutung zukam als in der Vergangenheit“, sagt Lorusso. „Einige der zirkulierenden Bilder wurden zu echten Ikonen, zu Sinnsynthesen: Etwa der Papst allein im Regen vor Sankt Peter, Italiens Präsident Mattarella am Altar des Vaterlands am 25. April und die Särge von Bergamo, die von Militärlaster abtransportiert wurden. Bilder brachten unsere Verunsicherung, Einsamkeit und das ganze Drama auf den Punkt, das wir nicht zu erzählen vermochten.

Unser Blick war lange Zeit in unseren vier Wänden eingeschlossen, aber über Videoanrufe konnten wir in die Wohnungen der anderen spähen, und öffentliche Personen über Live-Schaltungen und TV-Sendungen sehen. Welche Auswirkungen hatte dies?

Diese Bilder haben die zuvor sehr viel starrere Barriere zwischen öffentlicher und privater Sphäre niedergerissen: Unsere Wohnungen sind auch zu Orten des sozialen Lebens geworden. Aus dem Kontinuum des Lockdowns ist der Balkon als vielleicht symbolträchtigstes Element hervorgegangen, ein Ort, an dem normalerweise keine öffentlichen Handlungen vollzogen wurden, der jetzt aber zum Ort der Sozialisierung, der Beziehungen, der Bekundungen von Gesten für das Außen wurde.
Ich glaube, dass den Bildern auf unseren Socials und generell in der Medienlandschaft in dieser Zeit noch mehr Bedeutung zukam als in der Vergangenheit. Einige der zirkulierenden Bilder wurden zu echten Ikonen.

Viele Journalisten und normale Bürger haben auf Fotografien zurückgegriffen, um Menschen zu denunzieren, die vermeintlich gegen die Beschränkungen verstießen, manchmal sogar mithilfe von Teleobjektiven, die die Schwere der Übertretungen übertrieben. War dies Übereifer, ein Versuch, ein falsches Bild von der Wirklichkeit zu zeichnen, oder etwas anderes?

Unsere Gesellschaft wird sich an eine kritischere und bewusstere Einstellung im Hinblick auf die Nutzung visueller Instrumente gewöhnen müssen, die die Logik der Kontrolle begünstigen oder gar schüren. Aber das Thema der Kontrolle ist unter allen Blickwinkeln zentral geworden, nicht nur im Hinblick auf Bilder. Wir alle müssen wachsam bleiben und über eine Dimension nachdenken, die in diesen Monaten zwar notwendig geworden, aber sehr zerbrechlich und problematisch ist; wir müssen lernen, sie mit großer Sensibilität zu beherrschen. Die Kontrollwut hat sich Bahn gebrochen, aber sie war auch notwendig, da viele der Kontrollen angesichts des Notstands, in dem wir uns befanden, legitim waren. Nach Beendigung des Notstands muss diese Logik jedoch wieder.

Die Welt der Werbung hat schnell auf eine tragische und bisher ungekannte Neuheit reagieren müssen. Wie hat sie sich dabei verhalten?

Ich habe mit Neugier, Verblüffung und Freude beobachtet, wie die Unternehmen ihre Art zu kommunizieren geändert haben. Fast alle haben das eigentliche Produkt ausgeklammert und sich intensiver als sonst auf die Beziehungen, Werte und Emotionen konzentriert, die sie mit dem Zielpublikum verbinden. Natürlich ist das ein bewusster Schritt, denn die Firmen müssen tunlichst vermeiden, aus der Medienlandschaft zu verschwinden. Darum versuchen sie unter allen Umständen, die Beziehung mit dem Publikum beizubehalten. In diesen Monaten konnte diese Beziehung nur auf dem Drama gründen, das wir gemeinsam zu leben gezwungen waren.


Es war ungewohnt, dass sich so viele Emotionen und Erwartungen auf eine Infografik -- die täglich aktualisierte Infektionskurve -- konzentrierten. Ist es nicht das erste Mal überhaupt, dass eine nüchterne Grafik uns derart in den Bann zieht?

Die so genannte Data visualisation ist in den letzten Jahren ein wichtiges Instrument im Informationssektor und der wissenschaftlichen Kommunikation geworden. Bisher war sie allerdings einer Minderheit unter uns vorbehalten, denn zur Auswertung komplexer Infografiken braucht es ebenso komplexe Instrumente. Während des Lockdowns dagegen haben diese Grafiken einem generalisierten Informationsbedarf entsprochen und so mit einer scheinbar wissenschaftlichen und objektiven Darstellung die Illusion von Klarheit und Gewissheit geschaffen (obwohl wir wissen, dass die Daten, auf die sich die Grafiken bezogen, unsicher und nicht belastbar waren). Infografiken bewirken durch ihre Aufmachung und Sprache, dass wir ihnen vertrauen und erzeugen die Illusion von Objektivität. Vor allem in den vergangenen Wochen erwies sich diese Illusion allerdings als trügerisch.


Gibt es andere Bilder, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Die Darstellung des SARS-CoV-2. Das Bild des Virus, das den Lauf der Welt für immer geändert hat, ist so schön, dass es statt Angst Neugier und Verzauberung bewirkt. Ich glaube, dass diesem Bild in den vergangenen Wochen fast eine unterstützende Rolle zukam: Es bot uns die Möglichkeit, die Unsichtbarkeit und vor allem die Negativität des Virus gewissermaßen zu zähmen; die Unumgänglichkeit der Bedrohung konnte so vom Verstand und der Emotivität beherrscht werden. Es ist interessant, die faszinierende visuelle Identität dieses Virus von seiner verbalen Identität zu unterscheiden, die aus kalten, unpersönlichen und technischen Begriffen wie „Covid-19“ besteht.
Die Pandemie und die Macht der Bilder