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Lighthinking

Giacomo Leopardi, Meister des Lichts

Eine Entdeckungsreise durch hellen Mondschein und zitternde Sonnenpfeile im Werk des italienischen Dichters aus Recanati

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Published: 25 Jul 2019
Giacomo Leopardi setzte das Licht mit der Bewusstheit eines Malers ein; wenn er sich eine Szene vorstellte, dachte er intensiv darüber nach, von wo und wie stark das Licht diese erhellen und auf welche Weise sich das Licht in der Landschaft ausbreiten bzw. in Räume dringen und auf Gegenstände treffen sollte. Nicht nur Talent, sondern ein geübter Blick waren dafür entscheidend, hatte er doch Tag und Nacht die verschiedenen Helligkeitsgrade in der Stadt und dem umgebenden Land beobachtet und seine Auswirkungen auf das Gemüt beschrieben, um sie dann durch die Worte seiner Gedichte und seiner Texte nachzubilden. Manchmal blieb sein Blick an bestimmten Einzelheiten hängen, bei anderen Gelegenheiten rief er mit wenigen Adjektiven unbestimmtere Stimmungen hervor.
Eine Stelle im Zibaldone fasst die wichtigsten seiner Betrachtungen bündig zusammen und begründet sie im Licht seiner „Teoria del piacere“ (etwa „Theorie der Erfüllung, des Wohlgefallens“). Sie beginnt so:

Von dieser Seite meiner Theorie der Erfüllung, wo gezeigt wird, wie zur Hälfte oder mit gewissen Hindernissen geschaute Objekte uns unbegrenzte Vorstellungen eingeben, erklärt sich, weshalb uns das Licht des Mondes oder der Sonne an Orten so gefällt, wo wir sie selbst nicht sehen und den Ursprung des Lichts nicht entdecken; ein Ort, der nur zum Teil durch dieses Licht illuminiert wird; der Widerschein dieses Lichts und die verschiedenen stofflichen Effekte, die aus diesem entstehen; das Eindringen dieses Lichts in Orte, wo es selbst ungewiss, sich verwehrt und ununterscheidbar erscheint, wie es durch ein Röhricht, in einen Wald, durch halb geschlossene Balkone schimmert etc.; dieses Licht, das an Orten und Gegenständen geschaut wird, in die es nicht dringt und sich nicht direkt auswirkt, sondern an einen anderen Ort oder Gegenstand zurückgeworfen wird und dort verströmt.

Framment 1744-1745 (Zibaldone), Giacomo Leopardi
Giacomo Leopardi, Meister des Lichts

Il Colle dell’Infinito. Photo: Giuseppe Saluzzi.

Giacomo Leopardi setzte das Licht mit der Bewusstheit eines Malers ein
Aber worin genau besteht die teoria del piacere? Kurz gefasst handelt es sich dabei um die von Leopardi geäußerte Vorstellung, nach der die erfüülendste aller Tätigkeiten – die einzige, welche unsere grenzenlosen Sehnsüchte stillt – die Ausübung der Vorstellungskraft ist. Auch sich selbst zu täuschen, notiert der Dichter mit Bitterkeit, ist angenehm - wenn es nur dauert. Die Vorstellung wird, ob im Alltag oder in der Poesie, besonders durch das Vage und Unbestimmte angeregt, eben den Regungen, die Platz für die Vorstellung lassen.
Wir haben die Leopardi-Expertin Chiara Fenoglio von der Università di Torino gebeten, uns bei der Einordnung der teoria del piacere zu helfen: „Es ist eine sehr komplexe Theorie“, erläutert sie, „die Leopardi in den über 4000 Seiten des Zibaldone entwickelt. Ausgangspunkt ist das Bewusstsein, welches sich aus den eudämonistischen Theorien des 18. Jahrhunderts speist, dass es die Erfüllung nicht gibt, sondern nur einzelne, zufällige und begrenzte Freuden. Daher stammt die Auffassung, dass sich nur im Unbestimmten und in der Vorstellung echte Erfüllung finden ließe, was Leopardi beispielsweise im Das Unendliche oder im kleinen, Tasso gewidmeten Werk ausführt. Aber wichtig für eine solche Geisteshaltung, schreibt Leopardi an einer weniger bekannten Stelle des Zibaldone, sei auch, „das Wenige zu schätzen“ und jenen „Gemütssinn“ zu entwickeln, der nicht der Weg der Glückseligkeit sein mag, aber möglicherweise die einzige ernsthafte Hypothese eines nicht (zu) unglücklichen Lebens.“
Giacomo Leopardi, Meister des Lichts

Giacomo Leopardi im Portrait von A. Ferrazzi ca. 1820; rechts Chiara Fenoglio (Università di Torino)

Mithilfe der Poesie überführte Leopardi die Theorie in Praxis. Seine Notizen zu den evokativsten Lichtbedingungen im Zibaldone finden sich in seinen Versen wieder: „Fast alle Canti Leopardis“, so Fenoglio, „sind von einem zarten Licht durchzogen, vor allem dem Mondlicht, das von Am Abend eines Festtages bis Monduntergang die Szene illuminiert. Alles ist gedämpft, als würde das direkte Schauen, in hellem Licht, der dichterischen Besinnlichkeit abträglich sein.“

Besonders in Am Abend eines Festtags ist die Nacht “hell” – so hell wie nur eine Nacht sein kann– und der Mond zeigt in der Ferne die Gipfel der Berge, während aus den Fenstern das Licht der Laternen schimmert ; die Illumination der Landschaft vermittelt eine beruhigende Friedlichkeit, die sich im „leichten Schlummer“ der Frau ausdrückt, die vom Fest nach Hause zurückgekehrt ist. Dasselbe Szenario nimmt vor dem Dichter, der nicht schlafen kann, melancholische und tragische Züge an. Die Natur selbst hat ihn zur Hoffnungslosigkeit verurteilt, und verhängt ihr Urteil in Form eines Lichteffekts, nämlich den tränenfeuchten Augen des ruhelosen lyrischen Ichs: „Dir / Soll nie das Auge glänzen, als von Thränen.“

Carmelo Bene liest La sera del dì di festa von Giacomo Leopardi

Auch in der ersten Strophe von Monduntergang sind die Helligkeit der nächtlichen Landschaft und dann die Dunkelheit lyrisch bedeutungsschwer. „Das silberne Licht des Mondes“, fährt Fenoglio fort, „lässt bei seinem Untergang die Welt verwaist und bang zurück“. Der Übergang des Mondscheins zur pechschwarzen Dunkelheit findet in diesen Versen statt:

„Der Mond versinkt und sich die Welt entfärbt
Die Schatten fliehn und nur
Ein dunkler Schleier deckt Gebirg und Flur –
Und dann im blinden Schweigen
Der Nacht mit einsam klagendem Gesang
Den Nachglanz des Gestirns, das seinem Wagen
Die Leuchte vorgetragen,
Der Kärrner grüßt den müden Pfad entlang: –
So schwinden, so entschweben
Sehn wir dem Erdenleben
Die Jugend.“


„Die Sonne mit ihrem Glanz ist weniger stark in Leopardis Lyrik vertreten“, fährt Fenoglio fort, „denn sein Licht ist ein ungewisser oder durch die Ritzen dringender Schimmer, nie direktes Licht, wie bei Der Traum wo die Strahlen “durch die geschlossnen Läden” in das Zimmer des Dichters fallen. Oder in Einsames Leben, wo die „Sonnenpfeile zitternd durch den Tropfenfall“ des morgendlichen Regens dringen.“

Man fragt sich, ob sich Leopardi bei diesen wirkmächtigen Bildern nicht an einem Maler inspiriert habe. Von den Gemälden aber, die Leopardi schätzte, wissen wir wenig, „seine Betrachtungen zur Musik sind sehr viel zahlreicher.“ Wir können aber versuchen, einige Puzzleteile zusammenzusetzen, um naheliegende Vermutungen in dieser Richtung anzustellen. So befindet sich das Gemälde Verkündigung von Lorenzo Lotto beispielsweise in Recanati, sagt Fenoglio an und ergänzt: „Die Kraft dieses Bildes, eine fast schon schmerzhafte Schönheit zu erschaffen (im Unterschied zur Grazie, wie der Zibaldone zu Montesquieu ausführt), war für mich immer ein Indiz, dass es für Leopardi ein wichtiger Bezugspunkt gewesen sein musste.“
Giacomo Leopardi, Meister des Lichts

Die Verkündigung, Lorenzo Lotto (ca. 1527)

Auch wenn wir nicht sicher wissen, welche Malwerke Leopardi schätzte, kennen wir doch einen Ort, den er geliebt und unsterblich gemacht hat: den Monte Tabor von Recanati, besser bekannt als „colle de L‘Infinito“ (Hügel des Unendlichen). Die Verse des „L‘Infinito“ („Das Unendliche“) gehören zu den bekanntesten der Canti, und 2019 jährt sich der zweihundertste Geburtstag ihres Entstehens. Chiara Fenoglio hat zwei Tipps für all diejenigen, die in der Schule zu ihrer Lektüre verdonnert wurden, um ihre Vitalität und Schönheit neu zu entdecken: Die „Lektüre der Seiten im Zibaldone, in denen Leopardi zwischen 1819 und 1821 über das Thema des “zweiten Schauens” und des Unendlichen/Unbestimmten schreibt, etwa im Fragment 1744“, welches diesem Artikel vorangestellt wurde. „Empfehlenswert auch ein Spaziergang auf den Gipfel des Monte Tabor, wo das Haus Leopardis liegt, eine alles überstrahlende Erfahrung (um beim Thema des Lichts zu bleiben).“